Text von Noemi Smolik
Artforum, März 2004
Viele kennen in Köln den Schnitt-Raum, einen kleinen Laden mitten in der
Stadt, der zu einem Ausstellungsraum umfunktioniert wurde, und der in den
90er Jahren schnell zu einem beliebten Treffpunk junger Künstler/innen,
Studenten/innen, Kunstkritiker/innen und Kunstinteressierten wurde. Hier
finden bis heute nicht nur Ausstellungen, sondern auch Filmvorführungen,
Vorträge und Diskussionen statt. Kaum einer weißt aber, dass die Initiatorin
und Namensgeberin dieses Raumes, Corinna Schnitt, die sich heute jedoch
nicht mehr an den Aktivitäten beteiligt, selbst eine Künstlerin ist, die auf
eine Reihe von ihr inszenierten Kurzfilme zurückblicken kann. Bisher wurden
ihre Filme kaum gezeigt; die jetzige Ausstellung in der Berliner Galerie
Olaf Stüber ist ihr erster Galerieauftritt. Es werden zwei Filmen aus dem
Jahre 2003, “Living a Beautiful Life" und “Das nächste Mal" gezeigt, die
anschließend auch im Kunstverein Bochum zu sehen sein werden.
Die Filme von Corinna Schnitt bewegen sich zwischen Dokument und Fiktion,
wobei es für den Betrachter/in nur schwer auszumachen ist, wann das
Dokumentarische aufhört und wann die Fiktion einsetzt, welche Stimmen noch
authentisch, welche Bilder das Erzeugnis einer Fantasie sind. So trotzt
Corinna Schnitt dem Alltag Geschichten ab, die den Betrachter bewusst über
ihren realen Bezug zur Wirklichkeit im Ungewissen lassen. In einem ihrer
ersten Filme “Schönen, guten Tag" von 1995 sieht man die Künstlerin ihre
Wohnung und das schäbige Treppenhaus zu putzen. Dabei begleitet sie die
gebrechliche Stimme ihrer Vermieterin mit der wiederholt auf dem
Anrufbeantworter hinterlassenen Mahnung: Frau Schnitt möge bitte die Türe
ihrer, sich im Treppenhaus befindlichen Toilette jedesmal abzuschließen, aus
Gründen die nur einer wild gewordenen Fantasie zu entstammen scheinen und
den Realitätsbezug des Filmes in Frage stellen: Fiktion oder Wirklichkeit?
In dem Film “Zwischen vier und sechs" von 1997/98 erzählt Corinna Schnitt
mit einer um Sachlichkeit bemühten Stimme wie sie die Nachmittage mit ihren
Eltern, die in einer langweiligen Einfamilienhaussiedlung wohnen, verbringt:
mit dem Vater, der eine Leiter trägt und der Mutter mit einem Eimer in ihrer
Hand machen sie sich, nach einem vorher detailliert ausgearbeiteten Plan,
auf den Weg, um Straßenschilder zu reinigen. In dem in Holland entstandenen
Film “Das nächste Mal", der in Berlin zu sehen ist, macht ein 11-jähriger
Junge, auf einer mit Gras bewachsenen Verkehrsinsel inmitten eines
Autobahnkreuzes liegend, einem ebenfalls 11-jährigen Mädchen eine
Liebeserklärung, die einem Text von Corinna Schnitt entstammt; wie
abenteuerlich wirken Sätze, die jeder von uns schon mal gesagt hat.
In ihre Filme lässt Corinna Schnitt immer wieder ihre unmittelbare Umgebung
einfließen. Daher wundert es nicht, dass sie während ihres
Studienaufenthaltes in Kalifornien einen Film über das Glück gedreht hatte.
Wo sonst, wenn nicht in diesem Land, an diesem Ort der weltweit
professionellsten Produktion von Fiktionen, in dem sie 14-jährige
Jugendliche nach ihrer Vorstellung vom Glück befragte: berufliche Karriere,
Auto, Haus und sexy Ehefrau haben sich die Jungs gewünscht, frische Blumen,
Unabhängigkeit, schöne Kleider und die beste Ausbildung für ihre Kinder die
Mädchen. Von einer schönen Frau und einem selbstsicher aussehenden jungen
Mann, die mal vor einem Kamin, mal am Computer, mal neben einem
Schwimmingpool oder in einer schicken Umkleidekammer einer sonnig luftigen
Villa in Beverly Hills auftreten, werden in “Living a Beautiful Life" diese
Wünsche weiterkolportiert. Häuser, Sommerhäuser, Autos, sichere Umgebung,
ich bin glücklich... Genug, so viel Glück ist nur schwer zu ertragen. Dann
schon lieber Bilder, die als Gegenüberstellung auf der gegenüberliegenden
Wand laufen: kleine nackte Kinder in einer paradiesischen Landschaft,
umgeben von großen Luftballons, die mit einem Babytiger spielen. Sie
entstammen einer anderen Fabrik von Fiktionen, der ostdeutschen
Filmproduktion der 70er Jahre. Fiktion, Traum, Wunschträume - wieso wirkt
deren Erfüllung so hohl?
In Corinna Schnitt Filmen zerrt die Fiktion am Alltag, Fantasie,
Wunschträume und schäbige Nüchternheit des Alltäglichen vermischen sich zu
einer, von der Künstlerin mal schon mit einem liebevoll bösen Blick
betrachteten grotesken Allgegenwärtigkeit, die den Alltag zu einem
unergründlichen Mysterium macht. Einem Mysterium, in dem die Tatsachen durch
Fiktionen ersetzt werden. Tatsache oder Fiktion? Wer kann sie noch
auseinanderhalten, schon gar nicht, wenn es um das Glück geht.